Die Analysen des russischen Philosophen Nikolai Karpizki, die dieser in seiner Ende 2024 verfassten Studie ‚Warum Russland die Sterbewilligen nicht ausgehen‘ 13 vorgelegt hat, legen tiefer liegende Ursachen und Gründe des Krieges frei. Ursachen und Gründe bewirken neue Gründe. Der Krieg ist zugleich Ursache, Wirkung und Grund.
Die Sicht des Westens auf diesen Krieg ist, wie Karpizki erklärt, durch enttäuschte Erwartungen getrübt. Schon 2022 erwartete man, dass Russland sich wegen seiner hohen Verluste zurückziehen würde, was aber nicht geschah. „2024 erwartete man dann, dass den Russen wegen riesiger Verluste die kampffähigen Soldaten ausgehen würden. Auch das hat sich nicht erfüllt.“ (Karpizki a.a.O.)
Die solcherart enttäuschten Erwartungen veranlassen den Autor zu einer Reihe von Fragen, mit denen er u.a. Putins wahren Motiven auf die Spur kommen will. Die Fragen:
„Wie kann die russische Führung ohne Rücksicht auf Verluste ihre Soldaten verheizen?
Wo findet die russische Armee immer neue Vertragssoldaten, obwohl sie bekanntermaßen oft in selbstmörderische Angriffe geschickt werden?
Warum machen Russlands Soldaten keinen Aufstand oder ergeben sich in [ukrainische] Kriegsgefangenschaft?
Wieso steht die russische Gesellschaft den enormen militärischen Verlusten scheinbar so gleichgültig gegenüber und unterstützt weiterhin den Krieg?“
Den Hauptgrund hierfür sieht Karpizki in der Tatsache, dass es in Russland sogar Akzeptanz für sinnlosen Tod gebe. Für diese Akzeptanz nennt er zwei Ursachen: 1. Im Laufe der Geschichte sei es den Russen immer wieder gelungen, „Kriegssiege durch Masse“ zu erringen, d.h. die eigene, großenteils unter Armut und Rechtlosigkeit leidende Bevölkerung als „Verbrauchsmaterial“ zu benutzen. So z.B. schon im Zarenreich. Gesteigert im heutigen Russland, in dem man einen „Todesstaat“ bzw. ein „Antisystem“ errichtet habe. „Todesstaat“ oder „Ökonomie des Todes“: Einnahmen aus Öl und Gas sichern „den pekuniären Wohlstand für Familienangehörige der gefallenen Soldaten“ (a.a.O.). Dabei sei eine Unterstützergruppe entstanden, die angeblich 10mal größer als die Anzahl der in der Ukraine eingesetzten russischen Soldaten sei. Und davon profitierten erstmals auch die ärmeren Schichten, die im Gegenzug den ständigen Zustrom von Freiwilligen an die Front sichern, was für diese Freiwilligen oft die einzige Möglichkeit sei, sich vor dem völligen sozialen Abstieg und Ruin zu retten. Durch all dies werde in Russland jeglichem Protest gegen den Krieg die Grundlage entzogen.
Soldaten in den Tod zu schicken, wird somit für viele zum profitablen Geschäft. Man schickt Soldaten rücksichtslos in überaus gefährliche (Nahkampf-)Aktionen bzw. in den sicheren Tod, um damit Geld zu verdienen! Das bedeutet: „Je häufiger die Truppen erneuert werden, desto mehr Möglichkeiten gibt es, an ihnen zu verdienen. So entsteht ein System, in dem die Armee zunächst ihre eigenen Soldaten und erst danach die Soldaten des Feindes eliminiert. Außerdem gibt es in der russischen Bevölkerung kaum Mitleid mit den Freiwilligen, das macht die Gesellschaft unempfindlich gegenüber militärischen Verlusten. Und für den Staat bedeutet der Tod von Soldaten an der Front niedrigere soziale Kosten. Denn Tote brauchen keine medizinische Versorgung und keine soziale Unterstützung.“ (a.a.O.)
2. Eine zweite Ursache für den „Krieg als Selbstzweck“ sieht Karpizki in einer in Russland vorherrschenden, besonderen Haltung zu Leben und Tod; beruhend auf einem Weltbild, „in dem alles, was geschieht, durch die Anwesenheit eines Feindes erklärt wird, der das Ur-Böse verkörpere“. Womit man auch jedes an Feinden verübte Verbrechen rechtfertige. Nicht mehr Moral, sondern Amoralität werde zur Tugend.
Dem entsprechen in Russland seit altersher zwei unterschiedliche Weltbilder, die des Manichäismus und des Gnostizismus. Im ersten geht es um den andauernden Kampf zwischen Gut und Böse, im zweiten um das Postulat der völligen Sinnlosigkeit allen Seins, da das Ganze durch einen „bösen Gott“ entstanden und daher wertlos sei. Auch im orthodoxen Christentum führte der Manichäismus zu Diskrepanzen und Exzessen, wie z.B. in kollektiven Selbstverbrennungen.
Im Bolschewismus verbanden sich Manichäismus und Klassenkampf, was einerseits sogar zur Rechtfertigung des Stalinismus, andererseits zum utopischen Traum von absoluter kommunistischer Freiheit beitrug. Inzwischen sei der Manichäismus allgemein durch den Gnostizismus abgelöst worden; und dies, obwohl es auch im heutigen Russland selbstverständlich noch unterschiedliche Weltanschauungen und Denkweisen gibt. Aber: Durch den Gnostizismus wird alles bedeutungslos und sinnlos; und nur dies sei anzuerkennen, folglich auch das sinnlose Sterben.
Dennoch ist zu fragen, warum sich Russen weiterhin freiwillig zum Kriegseinsatz in der Ukraine melden. Grund, laut Karpizki: Wer in bitterer Armut und ständiger Frustration lebt, nichts mehr zu verlieren hat, nimmt auch den Tod nicht mehr als Übel wahr. Die Stimmung wird „nekrophil“, dem Tod freundlich gesonnen. Volle Wertschätzung gewinnt, wer bereit ist, im Krieg zu sterben. Und da es in Russland Millionen solcher Leute gebe, ende nie der Zustrom sterbewilliger Freiwilliger.
Wenn sich soziale Nekrophilie mit gnostischem Fatalismus verbindet, entsteht der sogenannte „russische Fatalismus“. Und: „Genau dieser Fatalismus führt dazu, dass russische Soldaten in sinnlosen Angriffen in den Tod gehen, anstatt sich gegen ihre Kommandeure aufzulehnen, die von ihrem Tod profitieren.“ (a.a.O. S. 8)
Eher kurz und knapp behandelt Karpizki schließlich die Frage, wie die russische Armee in der Ukraine wirksam bekämpft bzw. aufgehalten werden könne. Der Nachteil der Ukraine und des sie unterstützenden Westens: Man verfüge nicht über die nekrophilen Mobilisierungsmechanismen der Russen. Hinzu komme die Gefahr, dass eines Tages „die besseren Waffen der NATO aufgebraucht sind und die russische Armee weiter mit neuen Freiwilligen kämpfen kann“ (ebd.). Schon deswegen komme es darauf an, neue Militärstrategien gegen Russland zu entwickeln, so z.B. durch den Einsatz von „Drohnen, Robotern und künstlicher Intelligenz“ (ebd.). Dann könnten die ukrainischen Soldaten „an der Front zunehmend technisch ersetzt werden“ und „Russland seinen einzigen Vorteil gegenüber zivilisierten Ländern verlieren.“ Karpizkis Schlusssatz: „Und bis dahin muss der Ukraine dabei geholfen werden, diese gefährlichste Zeit zu überstehen und Europa vor einer russischen Invasion zu schützen.“ (ebd.)
Karpizkis Analysen lassen sich in folgenden Kernsätzen zusammenfassen:
1. Enttäuschte Erwartungen des Westens: Russland zieht sich trotz enormer Verluste nicht zurück.
Die Sicht des Westens auf diesen Krieg ist, wie Karpizki erklärt, durch enttäuschte Erwartungen getrübt. Schon 2022 erwartete man, dass Russland sich wegen seiner hohen Verluste zurückziehen würde, was aber nicht geschah. „2024 erwartete man dann, dass den Russen wegen riesiger Verluste die kampffähigen Soldaten ausgehen würden. Auch das hat sich nicht erfüllt.“ (Karpizki a.a.O.)
Die solcherart enttäuschten Erwartungen veranlassen den Autor zu einer Reihe von Fragen, mit denen er u.a. Putins wahren Motiven auf die Spur kommen will. Die Fragen:
„Wie kann die russische Führung ohne Rücksicht auf Verluste ihre Soldaten verheizen?
Wo findet die russische Armee immer neue Vertragssoldaten, obwohl sie bekanntermaßen oft in selbstmörderische Angriffe geschickt werden?
Warum machen Russlands Soldaten keinen Aufstand oder ergeben sich in [ukrainische] Kriegsgefangenschaft?
Wieso steht die russische Gesellschaft den enormen militärischen Verlusten scheinbar so gleichgültig gegenüber und unterstützt weiterhin den Krieg?“
Den Hauptgrund hierfür sieht Karpizki in der Tatsache, dass es in Russland sogar Akzeptanz für sinnlosen Tod gebe. Für diese Akzeptanz nennt er zwei Ursachen: 1. Im Laufe der Geschichte sei es den Russen immer wieder gelungen, „Kriegssiege durch Masse“ zu erringen, d.h. die eigene, großenteils unter Armut und Rechtlosigkeit leidende Bevölkerung als „Verbrauchsmaterial“ zu benutzen. So z.B. schon im Zarenreich. Gesteigert im heutigen Russland, in dem man einen „Todesstaat“ bzw. ein „Antisystem“ errichtet habe. „Todesstaat“ oder „Ökonomie des Todes“: Einnahmen aus Öl und Gas sichern „den pekuniären Wohlstand für Familienangehörige der gefallenen Soldaten“ (a.a.O.). Dabei sei eine Unterstützergruppe entstanden, die angeblich 10mal größer als die Anzahl der in der Ukraine eingesetzten russischen Soldaten sei. Und davon profitierten erstmals auch die ärmeren Schichten, die im Gegenzug den ständigen Zustrom von Freiwilligen an die Front sichern, was für diese Freiwilligen oft die einzige Möglichkeit sei, sich vor dem völligen sozialen Abstieg und Ruin zu retten. Durch all dies werde in Russland jeglichem Protest gegen den Krieg die Grundlage entzogen.
Soldaten in den Tod zu schicken, wird somit für viele zum profitablen Geschäft. Man schickt Soldaten rücksichtslos in überaus gefährliche (Nahkampf-)Aktionen bzw. in den sicheren Tod, um damit Geld zu verdienen! Das bedeutet: „Je häufiger die Truppen erneuert werden, desto mehr Möglichkeiten gibt es, an ihnen zu verdienen. So entsteht ein System, in dem die Armee zunächst ihre eigenen Soldaten und erst danach die Soldaten des Feindes eliminiert. Außerdem gibt es in der russischen Bevölkerung kaum Mitleid mit den Freiwilligen, das macht die Gesellschaft unempfindlich gegenüber militärischen Verlusten. Und für den Staat bedeutet der Tod von Soldaten an der Front niedrigere soziale Kosten. Denn Tote brauchen keine medizinische Versorgung und keine soziale Unterstützung.“ (a.a.O.)
2. Eine zweite Ursache für den „Krieg als Selbstzweck“ sieht Karpizki in einer in Russland vorherrschenden, besonderen Haltung zu Leben und Tod; beruhend auf einem Weltbild, „in dem alles, was geschieht, durch die Anwesenheit eines Feindes erklärt wird, der das Ur-Böse verkörpere“. Womit man auch jedes an Feinden verübte Verbrechen rechtfertige. Nicht mehr Moral, sondern Amoralität werde zur Tugend.
Dem entsprechen in Russland seit altersher zwei unterschiedliche Weltbilder, die des Manichäismus und des Gnostizismus. Im ersten geht es um den andauernden Kampf zwischen Gut und Böse, im zweiten um das Postulat der völligen Sinnlosigkeit allen Seins, da das Ganze durch einen „bösen Gott“ entstanden und daher wertlos sei. Auch im orthodoxen Christentum führte der Manichäismus zu Diskrepanzen und Exzessen, wie z.B. in kollektiven Selbstverbrennungen.
Im Bolschewismus verbanden sich Manichäismus und Klassenkampf, was einerseits sogar zur Rechtfertigung des Stalinismus, andererseits zum utopischen Traum von absoluter kommunistischer Freiheit beitrug. Inzwischen sei der Manichäismus allgemein durch den Gnostizismus abgelöst worden; und dies, obwohl es auch im heutigen Russland selbstverständlich noch unterschiedliche Weltanschauungen und Denkweisen gibt. Aber: Durch den Gnostizismus wird alles bedeutungslos und sinnlos; und nur dies sei anzuerkennen, folglich auch das sinnlose Sterben.
Dennoch ist zu fragen, warum sich Russen weiterhin freiwillig zum Kriegseinsatz in der Ukraine melden. Grund, laut Karpizki: Wer in bitterer Armut und ständiger Frustration lebt, nichts mehr zu verlieren hat, nimmt auch den Tod nicht mehr als Übel wahr. Die Stimmung wird „nekrophil“, dem Tod freundlich gesonnen. Volle Wertschätzung gewinnt, wer bereit ist, im Krieg zu sterben. Und da es in Russland Millionen solcher Leute gebe, ende nie der Zustrom sterbewilliger Freiwilliger.
Wenn sich soziale Nekrophilie mit gnostischem Fatalismus verbindet, entsteht der sogenannte „russische Fatalismus“. Und: „Genau dieser Fatalismus führt dazu, dass russische Soldaten in sinnlosen Angriffen in den Tod gehen, anstatt sich gegen ihre Kommandeure aufzulehnen, die von ihrem Tod profitieren.“ (a.a.O. S. 8)
Eher kurz und knapp behandelt Karpizki schließlich die Frage, wie die russische Armee in der Ukraine wirksam bekämpft bzw. aufgehalten werden könne. Der Nachteil der Ukraine und des sie unterstützenden Westens: Man verfüge nicht über die nekrophilen Mobilisierungsmechanismen der Russen. Hinzu komme die Gefahr, dass eines Tages „die besseren Waffen der NATO aufgebraucht sind und die russische Armee weiter mit neuen Freiwilligen kämpfen kann“ (ebd.). Schon deswegen komme es darauf an, neue Militärstrategien gegen Russland zu entwickeln, so z.B. durch den Einsatz von „Drohnen, Robotern und künstlicher Intelligenz“ (ebd.). Dann könnten die ukrainischen Soldaten „an der Front zunehmend technisch ersetzt werden“ und „Russland seinen einzigen Vorteil gegenüber zivilisierten Ländern verlieren.“ Karpizkis Schlusssatz: „Und bis dahin muss der Ukraine dabei geholfen werden, diese gefährlichste Zeit zu überstehen und Europa vor einer russischen Invasion zu schützen.“ (ebd.)
Karpizkis Analysen lassen sich in folgenden Kernsätzen zusammenfassen:
1. Enttäuschte Erwartungen des Westens: Russland zieht sich trotz enormer Verluste nicht zurück.
2. In Russland gibt es Akzeptanz für sinnlosen Tod.
3. In Russland hat man einen „Todesstaat“ bzw. ein „Anti-System“ etabliert.
4. „Dabei sei eine Unterstützergruppe entstanden, die angeblich 10mal größer als die Anzahl der in der Ukraine eingesetzten russischen Soldaten sei.“
5. „Soldaten in den Tod zu schicken, wird … für viele zum profitablen Geschäft.“
6. „Nicht mehr Moral, sondern Amoralität werde zur Tugend.“
6. „Nicht mehr Moral, sondern Amoralität werde zur Tugend.“
7. „Durch den Gnostizismus wird alles bedeutungslos und sinnlos; und nur dies sei anzuerkennen, folglich auch das sinnlose Sterben.“
8. „Volle Wertschätzung gewinnt, wer bereit ist, im Krieg zu sterben. Und da es in Russland Millionen solcher Leute gebe, ende nie der Zustrom sterbewilliger Freiwilliger.“
9. „Wenn sich soziale Nekrophilie mit gnostischem Fatalismus verbindet, entsteht der sogenannte »russische Fatalismus«.“
10. Es komme darauf an, gegen Russland neue Militärstrategien zu entwickeln, so z.B. durch den Einsatz von „Drohnen, Robotern und künstlicher Intelligenz“.